Das Andockmodell – eine kurze Geschichte

Die 'Umgekehrte Pyramide' kommt in der Natur nicht vor. Im Journalismus dagegen ist sie fast eine Art Naturgesetz.

Das wusste ich noch nicht, als ich meine ersten Nachrichten fürs Radio schrieb. Aber ich lernte es schnell. Weil alle es so machten und es keine Alternativen dazu gab.

Die 'Umgekehrte Pyramide' war das Modell, wie man Nachrichten schrieb – und auch heute meist noch schreibt.

Nachrichten schreiben nach dem Pyramidenmodell geht so:

  • Zuerst kommt der Leadsatz: er sagt, was neu ist.
  • In der Quelle steht, woher man die Informationen hat.
  • Die Einzelheiten ergänzen die Informationen im Leadsatz.
  • Der Hintergrund nennt die Vorgeschichte, erläutert Begriffe etc.

Nachrichten schreiben nach diesem Modell ist oft einfach. Aber nicht immer.

Manchmal ging mir das Schreiben leicht von der Hand, manchmal nicht. Manchmal liessen sich die Themen nicht so geschmeidig in die Pyramide giessen, die Resultate waren wenig berauschend – und für jene, die zuhörten, wohl auch nicht verständlich. Dann sagte ich mir jeweils: die Pyramide will es halt so. Oder ich schrieb schlechten Gewissens Nachrichten, die der Pyramide nicht entsprachen.

So richtig spannend wurde es beim Schweizer Radio 1996. Damals hiess es Radio DRS, heute SRF.

Wie alles begann: NEWS3 (1997)

Das damalige Radio DRS hatte drei Ketten: DRS1 für das grosse, eher ältere Publikum; DRS2 als Kultursender; und DRS3 für die Jüngeren. Die Nachrichten waren für alle drei Ketten gleich: zur vollen Stunde schalteten die Ketten in die Nachrichtenredaktion.

Die Idee, für unterschiedliche Teile der Bevölkerung unterschiedliche Nachrichten zu senden, schien vielen damals völlig absurd: Nachrichten waren schliesslich einfach Nachrichten. Es war deshalb ein einigermassen gewagtes Unterfangen, als die Direktion von Radio DRS 1996 beschloss, für DRS3 eigene Nachrichten zu produzieren. In diesen Nachrichten sollten "besondere thematische und formale Akzente gesetzt werden", wie es im Projekt hiess. Das Projekt selbst: 'News3'.

Konkret bedeutete dies: eine grössere Themenvielfalt als bisher, mehr Originaltöne und Korrespondentenberichte, mehr akustische Elemente wie etwa Trenner zwischen den einzelnen Meldungen. Gleichzeitig auch – und nur für das Team, das die DRS3-Nachrichten produzieren sollte – der Übergang zur digitalen Schnitttechnik: man schnitt nicht mehr reale Tonbänder, sondern am Computer.

Neue Wege auch bei der Organisation der Arbeit: zwei Nachrichtenredaktionen im selben Raum. Die Redaktion, die für DRS1 und DRS2 produziert, arbeitet nach dem bisherigen Muster: rund um die Uhr, in 8-Stunden-Schichten. Eine Person ganz allein zwischen Mitternacht und 4 Uhr, drei bis fünf RedaktorInnen, wenn es am meisten zu tun gibt, über Mittag und am frühen Abend. Das Team von News3: zwei einsam besetzte 10-Stunden-Schichten, die sich die Sendezeit zwischen 6 und 20 Uhr aufteilten. Und dank der 4-Tage-Woche: Zeit, um sich zu erholen.

Hiess das neue Konzept nun aber auch: eine grössere Freiheit beim Schreiben?

Das war nicht so klar. Je mehr die Leute von News3 bei der Themenwahl und beim Schreiben eigene Wege gingen, desto eher gab es Diskussionen. Diskussionen mit den KollegInnen der DRS1/2-Nachrichten, die weiter den Weg gingen, den man bei den Nachrichten schon immer gegangen war. Und da der 'Dienstleiter' (oder die 'Dienstleiterin') der DRS1/2-Nachrichten auch für die Nachrichten von News3 verantwortlich war, gab es auch schon mal Krach. Jedenfalls endete manche Diskussion im Büro des nächsthöheren Vorgesetzten.

Doch die neuen Freiheiten führten nicht nur zu Reibereiten. Sie führten auch zu einem ganz eigenen Ehrgeiz bei News3, 'bessere' Nachrichten senden zu wollen; zu einem ausgeprägten Team-Geist. Und sie führten zu Arbeitsüberlastungen und Frust.  

Ein Jahr nach dem Start: Ein Konzept und Beispiele (1998)

Am 1. April 1997 ging's los. In den Folgemonaten legte ich immer wieder Meldungen auf die Seite: Meldungen zum gleichen Thema, die sich aber stilistisch unterschieden. Und Meldungen, die in den 'traditionellen' Nachrichten auf DRS1/2 nicht gesendet wurden – weil sie, aus Sicht der MacherInnen, nicht ins Konzept passten. Da kam dann ein rechter Stapel an Meldungen zusammen.

Im Hinblick auf den ersten Geburtstag von News3 nahm ich mir auch vor, über die Form der Nachrichten nachzudenken – in der Freizeit, denn dafür gab es keinen Auftrag. Weshalb scheiterten wir immer wieder am Pyramidenmodell? Lag das nur an uns – oder vielleicht auch am Modell? Gab es wissenschaftliche Literatur zum Thema? Und wie schrieben wir, wenn wir uns nicht nach der Pyramide orientierten? Gab es auch da bestimmte Regeln? Regeln, die man allenfalls zu einem alternativen Nachrichten-Modell bündeln könnte?

Die Analyse wuchs sich zu einem kleinen Aufsatz aus, mit einer Kritik am Pyramiden-Modell und der Entwicklung des 'Andock-Modells'. Die Nachrichten-Theorie zu News3 sozusagen.

Zusammen mit einem kurzen Überblick zum Konzept und zur Geschichte von News3 sowie einer Auswahl an Meldungen, die ich gesammelt hatte, ergab der Aufsatz zum Andock-Modell ein kleines A5-Büchlein, das ich fotokopierte, heftete und rechtzeitig zum ersten Geburtstag der neuen Nachrichten an verschiedene Stellen innerhalb von Radio DRS verteilte.

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Die Reaktionen waren gemischt. Skepsis auf der einen Seite und auf der andern Seite Freude darüber, dass man nun etwas in der Hand hatte, mit dem man vertiefter diskutieren konnte.

Radio-intern – und insbesondere innerhalb der Nachrichten-Redaktion – waren die Auseinandersetzungen teilweise hitzig. Manche Nachrichten-RedaktorInnen erwiesen sich als engagierte VerfechterInnen der Pyramide und als erbitterte GegnerInnen jeglicher Abweichung. Und diese Abweichung hatte nun einen Namen: Andock-Modell.

Das Andock-Modell… 

Das Pyramiden-Modell ist in der Praxis insbesondere dann schwierig zu handhaben, wenn es sich um kompliziertere Themen handelt oder um Themen mit einer längeren Vorgeschichte. Ein kurzer, verständlicher, attraktiver Leadsatz ist dann schwierig zu schreiben, weil er zusätzlich zum Neuen auch noch das Vorwissen liefern müsste, damit das Neue überhaupt verstanden werden kann. Das geschieht normalerweise nicht, und deshalb ist der Leadsatz dann eben unverständlich. Dafür wird dieses notwendige Vorwissen in den Hintergrund-Teil gepackt. Das führt dann zu einer Art Verstehens-Stau: man versteht das Neue im Leadsatz erst, wenn man das Vorwissen im Hintergrund-Teil gehört bzw. gelesen hat. Nur: Die meisten, die dieses Vorwissen nicht haben, steigen vorher aus der Nachricht aus; und jene, die das Vorwissen haben, brauchen es nicht, auch nicht im Hintergrund-Teil.

Das Andock-Modell sagt: Überleg dir vor dem Schreiben einer Nachricht gut, was das Publikum zu diesem Thema weiss. Wenn Vorwissen zum Verständnis der Neuigkeit nötig ist, muss dieses Vorwissen in der Nachricht vor der Neuigkeit kommen. Ordne die Informationen einer Nachricht so an, dass man die Nachricht möglichst gut versteht. Eine vorgeschriebene Reihenfolge der Informationen gibt es nicht.

In der Praxis heisst das: wenn ein Thema einfach ist, kann eine Nachricht durchaus mit einem klassischen Leadsatz beginnen; die Neuigkeit steht dann an der Spitze. Eine solche Andock-Nachricht unterscheidet sich nicht von einer Pyramiden-Nachricht. 'Andocken' heisst also nicht, immer mit Hintergrund-Informationen zu beginnen! Wenn ein Thema aber kompliziert ist, eine wichtige Vorgeschichte hat oder sonstwie ein Vorwissen zum Verstehen der Neuigkeit voraussetzt, dann kommt dieses Vorwissen vor der Neuigkeit. Je nachdem, wie viel Vorwissen nötig ist, kommt die Neuigkeit früher oder später in der Nachricht. Grundsätzlich kann sie sogar erst am Schluss der Nachricht kommen.

…und die Kritik daran 

Die Kritik am Andock-Modell betraf im Wesentlichen zwei Punkte. Die KritikerInnen sagen:

  • Das Publikum erwarte – aus jahrelanger Gewohnheit – das Neuste zu Beginn der Nachricht. Es höre nicht weiter zu, wenn diese Erwartung nicht erfüllt werde. Der klassische Leadsatz dagegen biete die Freiheit, gleich beim ersten Satz zu entscheiden, ob man dranbleiben wolle oder nicht.
  • Bei Meldungen nach dem Andock-Modell merke man gar nicht, dass es sich dabei um Nachrichten handle; die Andock-Nachrichten seien vielmehr eine Art Kürzestgeschichten, und solche hätten in Nachrichtensendungen nichts verloren.

Die 'neuen' Nachrichten unterschieden sich tatsächlich recht stark von den bisherigen. Hier zwei Beispiele:

In der Schweiz sollen die Preise künftig nicht mehr inklusive Mehrwertsteuer sondern ohne Mehrwertsteuer angeschrieben werden.
Das fordert ein Vorstoss von freisinniger Seite, dem der Nationalrat zugestimmt hat und der vom Bundesrat geprüft werden soll. 
Bei jeder Anpassung der Mehrwertsteuer entstünden enorme Umstellungskosten, gab der Antragsteller unter anderem zu bedenken. Allein die letzte Erhöhung habe den Detailhandel einen zweistelligen Millionen-Betrag gekostet. 
Volkswirtschaftsminister Couchepin wies aber daraufhin, dass es in den meisten europäischen Ländern üblich ist, die Preise inklusive Mehrwertsteuer anzuschreiben.

(DRS1/2)

Wenn heute ein Kaffee im Restaurant 3.50 kostet, sind 7.6 Prozent Mehrwertsteuer, 25 Rappen, schon inbegriffen. Von FDP-Seite kam heute im Nationalrat der Antrag, der Bundesrat solle prüfen, ob es nicht sinnvoller sei, die Preise OHNE Mehrwertsteuer anzuschreiben. Dann würde der Kaffee zwar weiterhin 3.50 kosten, aber mit 3.25 angeschrieben sein. Der Antragsteller sagte, bei jeder Anpassung der Mehrwertsteuer entstünden bei der heutigen Regelung enorme Kosten. 
Volkswirtschaftsminister Couchepin wies dagegen darauf hin, dass es in den meisten europäischen Ländern üblich sei, die Preise inklusive Mehrwertsteuer anzuschreiben. Ausserdem bereite es dem Handel üblicherweise wenig Probleme, die Preise neu anzuschreiben. 
Trotz dieser Einwände: die Mehrheit im Nationalrat war der Meinung, der Bundesrat solle die Frage prüfen.

(DRS3)

Im Alter von 90 Jahren ist die Aargauer Kunstmalerin Edith Oppenheim-Jonas gestorben. Edith Oppenheim war die Mutter der Comic-Strip-Figur 'Papa Moll'. 'Papa Moll' war 1954 aus einer Pro-Juventute-Aktion gegen Schund-Literatur heraus entstanden.

(DRS1/2)

Das Signalement: etwa 40-jährig, spärlich behaart, Muster-Gattin und 3 Kinder: Willy, Fritz und Evi. Wer ist es? – – – Papa Moll. 
Die Schöpferin der Comic-Figur, Edith Oppenheim-Jonas, ist gestern im Alter von 93 Jahren gestorben. Sie hatte Papa Moll Anfang der 50er-Jahre geschaffen.

(DRS3)

Veröffentlichung des Andock-Modells in der Zeitschrift Publizistik (1999)

Das Experiment News3 ging weiter. Ein Jahr später brachte die Zeitschrift Publizistik den Aufsatz in nur leicht überarbeiteter Form heraus, die Diskussion um den Aufbau von Nachrichten zog jetzt grössere Kreise.

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Dietz Schwiesau lernte ich kennen, als wir in einer Gruppe deutschsprachiger Nachrichtenleute das journalistische Handbuch 'Radio-Nachrichten' erarbeiteten, das 1994 erschien. Wir fanden heraus, dass uns nicht nur die journalistische Form der Nachrichten verband, sondern auch ein Ereignis, das wir als Nachrichten-Redaktoren miterlebt hatten: er noch in der DDR, ich in Bern: die Nacht, als die innerdeutsche Mauer fiel.

Wir hatten auch später immer wieder Kontakt. Er lud mich ein nach Deutschland, ich ihn in die Schweiz. Auch für ihn waren die Probleme, die das Pyramiden-Modell immer wieder mit sich brachte, offensichtlich. Und doch wollte er nicht ganz so weit gehen wie ich mit dem Andock-Modell. So entwarf und lancierte er das 'Bausteine-Modell':  ein Modell, das zwar an der Stellung des Leadsatzes an der Spitze der Nachricht festhielt, die andern Elemente der Pyramide – Quelle, Einzelheiten, Hintergrund – dagegen freigab.

Ein Schritt nach vorn: Das 'Andocken' wird bei Radio DRS salonfähig (2003)

Im Herbst 2003 erhält DRS3 eigene Hintergrundsendungen um 12 Uhr und um 17 Uhr. Gleichzeitig werden die beiden bisherigen Nachrichtenteams zusammengelegt, es gibt wieder gemeinsame Nachrichten – wie vor dem April 1997. Aber es sollen nicht mehr die Nachrichten von damals sein. Die sechsjährige Phase des Experimentierens hat Folgen: Die Stärken von News3 sollen den neuen einheitlichen Nachrichten zugute kommen, mit dem Ziel, "die Nachrichtensendungen so verständlich wie möglich zu machen, um dem gesamten Publikum von SR [Schweizer Radio] DRS beim Nachrichtenhören einen möglichst hohen Nutzwert zu verschaffen" , wie es in einer Mitteilung von Chefredaktor Marco Färber vom 19.9.2003 heisst. Formal verliert das Pyramidenmodell seine Monopolstellung, wie Färber weiter schreibt: "Ein bisher praktisch ausschliesslich in den News3 gepflegtes Nachrichten-Modell erhält jetzt auch seine offizielle 'Weihe': das Andock-Modell."

Das war natürlich toll. Endlich war das Ziel erklärtermassen wichtiger als die Form: es ging darum, verständliche Nachrichten zu produzieren, ganz unabhängig vom formalen Aufbau, den man wählte. Aber die Freude sollte nur wenige Jahre währen.

Neuer Chef, alter Wind (2006)

Es ist schon erstaunlich, wie stark formale Entscheidungen im Journalismus von der Person der Entscheidungsträger abhängen. Im Herbst 2006 ging Chefredaktor Marco Färber in Pension. Damit endete für die Nachrichtenredaktion eine Phase, die man durchaus 'liberal' nennen könnte: die Freiheiten waren vergleichsweise gross, und was den Aufbau der Nachrichten angeht, so hielten sich die einen eher an die Pyramide, die andern eher ans Andock-Modell. 

Der Nachfolger Färbers als Chefredaktor hielt nicht viel vom Andock-Modell, und auch der Chef der Nachrichten, der wenig später kam, sah die Dinge wieder enger.  Das hatte Folgen. Zunächst wurde das Andock-Modell auf 'Ausnahmefälle' beschränkt, später wurde es ganz verbannt. Die Probleme mit der Pyramide hatten sich damit aber natürlich nicht verflüchtigt. So sprach man dann von einem 'Schuhlöffelsatz', der dem klassischen Leadsatz vorangehen könne, wenn dieser nicht ohne Vorwissen verständlich sei, oder von einem 'Trichtermodell'…

Kommunikative Einordnung der Nachrichten-Modelle (2011)

Ich bin Ines Bose und Dietz Schwiesau dankbar, dass sie mir die Möglichkeit gegeben haben, die Auseinandersetzung mit dem Pyramiden- und dem Andock-Modell in einem neuen Aufsatz zu vertiefen. Ihr Band 'Nachrichten schreiben, sprechen, hören – Forschungen zur Hörverständlichkeit von Radionachrichten' erschien 2011.

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Der Aufsatz 'Pyramide und Andockmodell: Form und kommunikative Verankerung' diskutiert formale Eigenheiten sowie Argumente für und gegen die einzelnen Nachrichten-Modelle. Er listet Erfahrungen mit dem Andock-Modell aus der Praxis auf und gibt Einblick in erste empirische Forschungen dazu. Im zweiten Teil geht der Aufsatz den kommunikativen Grundlagen des Pyramiden- und des Andock-Modells nach.

Das Pyramidenmodell orientiert sich an einer strengen Norm der Objektivität und blendet die Instanz aus, die die Nachrichten-Inhalte zum Publikum bringt: die Nachrichtenredaktion.

Die Redaktion hat lediglich die Aufgabe, Fakten gemäss den vier Ebenen der Pyramide zu arrangieren. Zusammenhänge zwischen den Fakten, Einordnungen und dergleichen werden vermieden – das wird dem Publikum überlassen. Wie vertraut das Publikum mit dem Thema ist, ist von untergeordneter Bedeutung. Die Sprache der Nachricht ist unpersönlich, nüchtern, und gleiches gilt für ihre sprecherische Realisierung; Ziel ist es, dass SchreiberIn und SprecherIn möglichst gar nicht in Erscheinung treten.

In der Praxis klingen RedaktorInnen, die Nachrichten nach dem Pyramiden-Modell schreiben und sprechen, idealerweise wie Sprechroboter, die Fakten an Fakten reihen.

Das Andockmodell geht davon aus, dass eine solch strenge Objektivität grundsätzlich nicht möglich ist; dass die vermittelnde Instanz, die Nachrichtenredaktion, immer Teil des 'kommunikativen Dreiecks' ist.

Wer eine Nachricht schreibt, darf also – wenn auch bewusst zurückhaltend – in der Nachricht in Erscheinung treten: sprachlich, sprecherisch und auch inhaltlich, indem Zusammenhänge hergestellt und Einordnungen gegeben werden, wo dies der Verständlichkeit dient. Wie vertraut das Publikum mit dem Thema ist, ist von zentraler Bedeutung: dieses (angenommene!) Vorwissen beeinflusst die Reihenfolge der verschiedenen Informationen in der Nachricht. Ziel ist es ja, dass man beim Zuhören möglichst bruchlos versteht.

In der Praxis klingen RedaktorInnen, die Nachrichten nach dem Andock-Modell schreiben und sprechen, oft eher wie Radio-ModeratorInnen, die einem etwas erzählen wollen, was sie wichtig und spannend finden.

Was sagt das Publikum?

Einer Nachricht ist es einerlei, unter welchem Aufbau-Label sie segelt. Und Gleiches gilt auch fürs Publikum. Während die Diskussionen über die verschiedenen Modelle unter JournalistInnen teils heftig verliefen und die gegensätzlichen Standpunkte zeitweise fast religiöse Züge annahmen, vernahm man von Seiten des Publikums – nichts! Während all der Jahre, in denen in den Nachrichten-Sendungen des Schweizer Radios Pyramiden-Meldungen neben – teilweise sehr ausgeprägten – Andock-Meldungen gesendet wurden, gab es keinerlei Beanstandungen und auch keine Zeichen der Verwunderung oder der Irritation, dass die Nachrichten unterschiedlich aufgebaut seien.

Während meiner Jahre bei den Nachrichten hatte ich immer wieder Gelegenheit, mich mit Gruppen von Hörerinnen und Hörern zu unterhalten, jüngeren und älteren. Neben der Frage, welche Themen in den Nachrichten aufgenommen werden und welche nicht, besprachen wir immer auch formale Fragen, und ich spielte ihnen Beispiele vor: gleiches Thema, unterschiedlicher Aufbau, einmal als Pyramiden-Meldung, einmal als Andock-Meldung.

Beispiel Pyramide: Auslieferungsabkommen:

Beispiel Andock: Auslieferungsabkommen:

In der Regel fand die grosse Mehrheit die Andock-Meldungen leichter verständlich, wenn es sich um kompliziertere Themen handelte. Es gab allerdings auch oft einzelne Personen, die meinten: Ja, es mag schon sein, dass die Andock-Meldung leichter verständlich ist; aber am Radio möchte ich trotzdem lieber die Pyramiden-Meldung hören. Die tönt mehr nach Nachrichten.

Empirische Untersuchungen gibt es wenige. Gita Topiwala (2009) hat in ihrer Lizentiatsarbeit verschiedenen Gruppen von ZuhörerInnen Radio-Nachrichten vorgespielt, die das gleiche Thema behandelten, aber einmal nach dem Pyramiden-Modell, ein anderes Mal nach dem Andock-Modell aufgebaut waren. Sie kommt zum Schluss, dass es als "sicher" gelten könne, "dass gewisse Nachrichten, wenn sie im Andock-Modell umformuliert werden, bei den Rezipienten eine bessere Behaltensleistung erzielen können."

Hier die beiden Test-Sendungen, die Topiwala für Ihre Arbeit verwendet hat:

Test-Sendung 'Pyramiden-Modell':

Test-Sendung 'Andock-Modell':

Katharina Emde, Daniela Schlütz und Christoph Klimmt (2014) haben untersucht, ob Jugendliche Nachrichten besser verstehen und behalten, wenn sie in einem erzählerischen Stil gehalten waren. Ihre Befunde "deuten (…) darauf hin, dass narrative Nachrichten aufgrund der kausal-chronologischen Struktur die Informationsverarbeitung durchaus insofern unterstützen, als dass bei der Konstruktion des Modells in geringerem Masse auf Vorwissen zurückgegriffen werden muss." Narrative Nachrichten könnten (…) Jugendliche unter Umständen besser an komplexere Themen heranführen. 

Und heute?

Jan Vontobel wies 2017 darauf hin, dass "der überwiegende Teil" der Radionachrichten weiterhin nach dem Leadsatz-Prinzip aufgebaut sei. In der Branche sei aber "verstärkt zu beobachten, dass Abweichungen vom strengen Leadsatz-Prinzip beim Aufbau von Nachrichtenmeldungen möglich sind. So sind in den Redaktionshandbüchern von einigen Radiostationen in der Schweiz die Möglichkeiten vermerkt, Nachrichtenmeldungen nach dem Andock-Modell zu formulieren oder eine Mischform zwischen dem Leadsatz-Prinzip und dem Andock-Modell zuzulassen." Und auch beim Schweizer Radio sind heute wieder vermehrt angedockte Meldungen zu hören. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass die Nachrichten-Redaktion vor einiger Zeit eine neue Chefin erhalten hat…

 

Zürich, im Januar 2021

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